Das Wort zum Sonntag vom 19.11.1994 von Pfarrerin Heidrun Dörken, Frankfurt/Main
Ein leeres Rasenfeld. Kein Stein, kein Kreuz, kein Name zeigt, daß Menschen hier begraben liegen. Das gibt es immer mehr auf unseren Friedhöfen, anonyme Bestattung.
Ich weiß: Wer namenlos beerdigt wird, hat das zu Lebzeiten selbst bestimmt und so gewollt. Klar, es gibt ja Gründe: manche haben niemanden mehr. Auch die Kosten für die Bestattung spielen eine immer größere Rolle. Aber vor allem die Einstellung:
„Ich will doch niemandem zur Last fallen.”
Ich verstehe das alles. Und ich find´s trotzdem nicht gut. Kein Mensch ist doch so gering, dass er von sich denken darf: „Nichts soll an mich erinnern.”
Wie wir mit Sterben und Tod und dem Begräbnis umgehen, sagt eben viel darüber aus, wie wir leben, wie wichtig uns andere Menschen sind und wie wertvoll mein Leben ist. Ein ordentliches Grab hat deshalb für mich etwas mit Menschenwürde zu tun.
Nicht daß wir uns falsch verstehen: Ich will ja nicht, daß wir Pyramiden errichten wie für eine ägyptischen Pharao. Es gab und gibt um Tod und Beerdigung viel Prunk und Unnützes. Da sind wir zum Glück nüchterner geworden, gerade als Christinnen und Christen. Der Gott des Lebens will ja keinen Totenkult. Und die Liebe der Hinterbliebenen mißt sich nicht an einem teuren Sarg oder an aufwendiger Grabpflege.
Aber: Ins andere Extrem zu verfallen, überhaupt keinen Ort zu haben zum Trauern, das ist auch verkehrt. Wer kein Grab will, der versucht, glaube ich, Schmerz zu vermeiden. Ein Grab ist ja das deutlichste Zeichen, daß ein Leben zu Ende gegangen ist, daß ich Abschied nehmen muß. Trauern tut weh. Und das können wir nicht verhindern.
Das Grab ist vielleicht der Ort, wo ich diesen Schmerz auch zulassen kann, wo es mir niemand übelnimmt, wenn die Tränen fließen. Trauern ist nicht mit der Beerdigung erledigt, das dauert Wochen und Monate, manchmal Jahre.
Wir brauchen diesen Ort für uns: um innezuhalten, um loszulassen, um uns zu erinnern. Wenn ich am Grab stehe, dann fühle ich noch mal Glück und Last mit dem Menschen, der mir nahe war. Mir wird klarer, was mit mir geht von dem, was wir gemeinsam erlebt haben. Vielleicht kann ich verzeihen, endlich. Und mich freigesprochen fühlen von dem, was zwischen uns offen blieb.
Natürlich weiß ich, daß Gräber Menschen auch festhalten können. Daß sie gebannt zurückschauen und dabei erstarren. Dieser Zusammenhang von Nicht-loslassen-können und Erstarren wird am Anfang der Bibel ganz drastisch ausgemalt. Da ist eine Frau, die kann ihren Blick nicht von der Vergangenheit abwenden und da erstarrt sie zu eine Säule, wird zur „Salzsäule“. Sie schaut zurück, ist geradezu gebannt von Leid und Tod der Menschen, mit denen sie zusammengelebt hat. Dadurch wird sie unfähig, ihren eigenen Weg weiterzugehen. Vielleicht kennen Sie die Geschichte von Lot´s Frau.
Also: Gräber sind wichtig. Aber nicht weil sie uns auf die Vergangenheit festlegen. Sondern, weil sie unsern Blick nach vorn richten. Die Gräber können uns daran erinnern: Da ist mir jemand vorausgegangen. Wer gestorben ist, ist längst bei Gott angekommen.
Pfarrerin Heidrun Dörken, Frankfurt/Main